Vorwort zu Rosa Luxemburg. Ihre Politischen Ideen. 5. März 2021 – Gepostet in: Aktuelles, Shopnews, Verlagsnews – Schlagworte: Kommunismus, KPD, Marx, Sozialdemokratie, SPD
Vorwort von Wolfram Klein
Dieses Buch anlässlich des 150. Geburtstags von Rosa Luxemburg soll keine neue Biographie sein. Tatsächlich stützt es sich bei seiner Darstellung von biographischen Daten und der Äußerungen von Zeitgenoss*innen überwiegend auf vorliegende ausführliche Biographien, insbesondere auf die klassische Biographie von Paul Frölich und die anlässlich ihres 125. Geburtstags erschienene umfangreiche Arbeit von Annelies Laschitza, die sich unter anderem als (Mit-)Herausgeberin ihrer „Gesammelten Werke“ und „Gesammelten Briefe“ seit den 1970er Jahren ausführlich mit ihrem Leben und Werk beschäftigt hat.
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Was die politische Bewertung angeht, habe ich aber zu beiden Autor*innen Differenzen. Paul Frölich konnte oder wollte bei Rosa Luxemburg fast keine politischen Fehler entdecken. Laschitzas Arbeiten in der DDR sahen Luxemburgs Ideen durch die Brille der staatlich verordneten stalinistischen Karikatur der Ideen Lenis – ob aus Überzeugung oder um wenigstens einen Teil der Wahrheit veröffentlichen zu können, sei hier dahingestellt –, ihre nach 1989 veröffentlichten Arbeiten verwenden teils die gleiche falsche Gegenüberstellung … nur dass ihre Sympathien jetzt auf Seiten Luxemburgs statt des falschen Lenins liegen.
Tatsächlich waren die Differenzen zwischen Lenin und Rosa Luxemburg viel geringer, als sie häufig dargestellt werden, sowohl von Reformist*innen, die die Revolutionärin Luxemburg als Waffe gegen den Revolutionär Lenin verwenden wollten, als auch von Stalinist*innen, die die Bedrohung der Bürokratenherrschaft in der Sowjetunion, der DDR und anderen Ländern vor der Kritik durch Rosa Luxemburgs Ideen abschirmen wollten. Außerdem waren dabei weder Lenin noch Rosa Luxemburg in allen Fragen im Recht.
Die stalinistische Praxis, Luxemburg an dem Maßstab des angeblichen Lenins zu messen, hat gegenüber dem Vergleichen zwischen beiden verständliche Vorbehalte erzeugt. Tatsächlich können Vergleiche aber ein sinnvolles Mittel sein, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten und damit das Verständnis für politische Positionen zu vergrößern. In diesem Sinne werde ich solche Vergleiche einsetzen.
Ein weiterer Unterschied zwischen diesem Text und anderen Schriften über Rosa Luxemburg ist, dass ihre grundsätzlichen Ansichten über Fragen, wie die kapitalistische Wirtschaft funktioniert, oder was Grundzüge einer sozialistischen Gesellschaft sind, meist nicht dargestellt werden. In früheren Jahrzehnten konnte man es tatsächlich für überflüssig halten, ihre Ansichten zu Fragen wiederzugeben, in denen sie im Großen und Ganzen die üblichen marxistischen Positionen vertreten hat. Heute scheint mir das aus zwei Gründen anders zu sein. Erstens sind nach 1989 die Kenntnisse über die marxistischen Grundideen drastisch zurückgegangen. Zweitens sind stattdessen Ideen populär geworden, die mit den marxistischen Ideen, wie sie auch Rosa Luxemburg vertreten hat, im Gegensatz stehen. Zur Verwirrung trägt bei, dass diese „postmodernen“ Ideen teils als Marxismus bezeichnet werden (oder als dessen Weiterentwicklung – in Wirklichkeit erkennen ihre Verfechter*innen oft nur deshalb nicht, dass sie zu Ideen zurückgekehrt sind, die im vormarxschen Sozialismus verbreitet waren, weil ihre Kenntnis der sozialistischen Ideengeschichte kläglich ist). Da man aber die (wertvollen, gelegentlich fehlerhaften, nicht selten trotz Fehlern wertvollen) tatsächlichen Weiterentwicklungen der marxistischen Ideen, die wir Rosa Luxemburg verdanken, nur richtig werten kann, wenn man ihre Ausgangsbasis kennt, werde ich diese Ausgangsbasis ausführlicher als üblich darstellen. Dass das zugleich bedeutet, Ideen und Erkenntnisse in den Worten von Rosa Luxemburg darzustellen, die heute noch wichtig und aktuell und zu Unrecht zu großen Teilen in Vergessenheit geraten sind, ist selbstverständlich ein weiteres Motiv.
Das führt zu der Frage, warum man sich überhaupt mit den Ideen eines Menschen beschäftigen soll, der vor 150 Jahren geboren und vor über 100 Jahren ermordet wurde. Rosa Luxemburg schrieb in einem Gedenkartikel zum 20. Todestag von Karl Marx: „Wenn wir deshalb jetzt in der Bewegung einen theoretischen Stillstand verspüren, so ist es nicht, weil die Marxsche Theorie, von der wir gezehrt, der Entwicklung unfähig sei oder sich „überlebt” habe, sondern umgekehrt, weil wir die wichtigsten geistigen Waffen, die uns in dem bisherigen Stadium zum Kampfe notwendig waren, der Marxschen Rüstkammer bereits entnommen haben, ohne sie damit zu erschöpfen; nicht, weil wir im praktischen Kampf Marx „überholt” haben, sondern umgekehrt, weil Marx in seiner wissenschaftlichen Schöpfung uns als praktische Kampfespartei im Voraus überholt hat; nicht, weil Marx für unsere Bedürfnisse nicht mehr ausreicht, sondern weil unsere Bedürfnisse noch nicht für die Verwertung der Marxschen Gedanken ausreichen.“ Ich bin der festen Überzeugung, dass sowohl die Gedanken von Marx als auch die von Rosa Luxemburg uns auch heute noch „überholt“ haben und Antworten auf Fragen geben, die nicht nur heute aktuell sind, sondern noch mehr in der Zukunft aktuell werden.
Es würde den Rahmen sprengen und auch das Verständnis erschweren, wenn ich ihre Ideen in der Reihenfolge darstellen würde, in der sie von ihr zu Papier gebracht wurden. Stattdessen werde ich Fragestellungen an den Stellen ihrer Biographie behandeln, in denen sie zum ersten Mal Bedeutung erlangt haben. (Teilweise ist es auch die Stelle, an der sie eine besonders große Bedeutung hatten. So war sie seit ihrer Kindheit ständig mit Antisemitismus konfrontiert. Ihre ausführlichsten Stellungnahmen dazu stammen aber aus dem Herbst 1910, als bürgerliche Medien in Polen ein „literarisches Pogrom“ – heute würde man es vielleicht „medialen Shitstorm“ nennen – veranstalteten. Deshalb werde ich die Frage in diesem Zeitabschnitt ihres Lebens behandeln.)
Das Buch gliedert sich deshalb in zwölf Kapitel. Im ersten Kapitel behandle ich Rosa Luxemburgs Weg zum Sozialismus, also ihre Kindheit, Jugend, den Beginn ihrer politischen Tätigkeit und die marxistischen Ideen, die sie sich angeeignet hat. Das zweite Kapitel behandelt ihre Arbeit im Schweizer Exil für die polnische revolutionäre Bewegung und die Herausbildung einer internationalistischen und einer sozialpatriotischen Richtung in dieser Bewegung. Im dritten Kapitel geht es um ihren Kampf für die Verteidigung der marxistischen Theorie und Praxis in der deutschen Sozialdemokratie. Thema des vierten Kapitels sind die wirtschaftlichen und internationalen Veränderungen durch den Eintritt des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium. Der Imperialismus hatte aber auch Auswirkungen auf die Innenpolitik und die Beziehungen zwischen den Gesellschaftsklassen, die im fünften Kapitel behandelt werden. Für das sechste Kapitel kehren wir wieder nach Polen und in das russische Zarenreich zurück, zu den Entwicklungen der dortigen Arbeiter*innenbewegung und zur Revolution in den Jahren 1905-1907. Der Gegenstand des siebten Kapitels ist Rosa Luxemburgs Kampf für den politischen Massenstreik in Deutschland (insbesondere im Kampf um die Demokratisierung des preußischen Wahlrechts), dessen Bedeutung sich für sie sowohl aus den im vierten Kapitel behandelten Veränderungen der Klassenbeziehungen als auch aus der Erfahrung der russischen Revolution ergab. Das achte Kapitel behandelt Konflikte in Polen und Russland in der schwierigen Periode nach der Niederlage der Revolution 1905-1907. Das neunte Kapitel greift den Faden des vierten Kapitels wieder auf und schildert die Auseinandersetzung in der deutschen Sozialdemokratie mit Imperialismus und Kriegsgefahr. Das zehnte Kapitel beschreibt die Zuspitzung der politischen Widersprüche in Deutschland, die zu einem Zusammenlaufen des im neunten Kapitel behandelten Kampfs gegen die Kriegsgefahr mit dem preußischen Wahlrechtskampf und dem Massenstreik als Kampfmethode führten, die im siebten Kapitel behandelt wurden. Im elften Kapitel geht es dann um den Ersten Weltkrieg und im zwölften um die Revolutionen in Russland 1917 und in Deutschland 1918.
Vielleicht kann folgendes Schema das Verständnis des Aufbaus unterstützen:
Polen/Russland (und Schweiz) | Imperialismus und Krieg | Deutsche Innenpolitik |
1. Kapitel | ||
2. Kapitel | ||
3. Kapitel | ||
4. Kapitel | 5. Kapitel | |
6. Kapitel | 7. Kapitel | |
8. Kapitel | 9. Kapitel | |
10. Kapitel | 10. Kapitel | |
11. Kapitel | 11. Kapitel | 11. Kapitel |
12. Kapitel | 12. Kapitel | 12. Kapitel |
Diese Darstellungsweise verringert zwar die thematischen Sprünge, bringt aber zeitliche und räumliche Sprünge mit sich. Um nicht bei den Leser*innen Kenntnisse ihrer Biographie vorauszusetzen, die diese möglicherweise nicht haben, stelle ich einen sehr kurzen Überblick über ihr Leben voraus.
Rosa Luxemburg hat einmal geschrieben, „dass Monotonie kein positiver Faktor ist und dass man die Leser gewinnen, aber nicht terrorisieren muss.“ Zitate können für Leser*innen ermüdend sein, aber da in meinen Zitaten vor allem die große Rednerin und Schriftstellerin Rosa Luxemburg selbst zu Wort kommt, bin ich zuversichtlich, dass der Text trotzdem weder monoton noch terrorisierend ist.
Wolfram Klein, Plochingen im Februar 2021
* * *
Eine Arbeit über Rosa Luxemburg leidet darunter, dass es bis heute keine vollständigen Ausgaben ihrer Werke und Briefe gibt. Es gibt „Gesammelte Werke“ (hier abgekürzt GW), von denen in den 1970er Jahren in der DDR fünf Bände und in den letzten Jahren zwei weitere Bände erschienen, die aber nur einen kleinen Teil ihrer polnischen Schriften enthalten. Bei einer Autorin, deren Arbeitsschwerpunkt über viele Jahre die polnische Arbeiter*innenbewegung war und die vor allem durch und durch Internationalistin war, ist diese Beschränkung haarsträubend. Weitere für polnische Publikationen verfasste Texte sind erschienen in der ersten Ausgabe ihrer „Gesammelten Werke“ (hier abgekürzt GW*), von der in den 20er Jahren drei Bände von neun geplanten erschienen. (Die Herausgabe wurde abgebrochen, weil sich in den Kommunistischen Parteien der Stalinismus durchsetzte und dadurch sowohl der Herausgeber Paul Frölich als auch Rosa Luxemburg selbst in „Ungnade“ fielen.). In den 1970er Jahren erschien ein weiterer Band mit ein paar ihrer „polnischen“ Schriften unter dem Titel „Internationalismus und Klassenkampf“ (im Folgenden abgekürzt als IK). 2012 erschien ihr Hauptwerk zur Nationalen Frage „Nationalitätenfrage und Autonomie“ auf Deutsch, 2015 mehrere ihrer polnischen Texte rund um die Revolution 1905/06 („Arbeiterrevolution 1905/06“). Ein weiterer achter Band ihrer Gesammelten Werke, der ihre ausstehenden polnischen Schriften enthalten soll, ist angekündigt, aber leider noch nicht erschienen. In den 1980er Jahren erschienen fünf Bände „Gesammelte Briefe“ (hier abgekürzt mit GB), ein sechster Nachtrags-Band erschien 1993.
Ich verwende auch in Zitaten die neue Rechtschreibung. Darüber hinaus, habe ich weitere sprachliche Modernisierungen vorgenommen, die zur Zeit des Erscheinens der verschiedenen Neuausgaben bereits üblich waren, aber in den Texten trotzdem unterlassen wurden. Es erschiene mir unlogisch, „daß“ in „dass“ zu ändern, aber z.B. nicht „das Kompromiss“ in „der Kompromiss“. Ich hoffe, dass dies sprachliche Irritationen beim Lesen vermeidet, die nur von den Inhalten ablenken würden. Eine geschlechtsneutrale Sprache mit * habe ich im Text zu verwenden versucht, sie aber nicht nachträglich in Zitate eingearbeitet.