Vorwort zu „Barrikaden am Wedding“ 29. April 2021 – Gepostet in: Shopnews, Verlagsnews – Schlagworte: , , , , , , ,

Bis zum 3. Mai läuft unsere Aktion rund um den 1. Mai. Zu jeder Bestellung ab 10 Euro bekommt ihr ein eBook des Buches „Barrikaden am Wedding“ von Klaus Neukrantz dazu.

Das Buch selbst findet Ihr hier: https://manifest-buecher.de/produkt/barrikaden-am-wedding/

Hier veröffentlichen wir das Vorwort, das René Arnsburg zum Buch geschrieben hat.

Die Herrschenden vergessen nicht

Die Herrschenden vergessen nicht. Vor allem vergeben sie nicht. Die Kösliner Straße, in der die Handlung dieses Buches angesiedelt ist, war das „pochende Herz“ des „Roten Wedding“. Die Vergehen der Bewohner*innen der „Roten Gasse“, wie sie die Straße nannten, waren der Widerstand, den sie gegen die unerträglichen Lebensumstände leisteten und ihre Solidarität untereinander. Das Kösliner Viertel war ein Dorn im Auge der Hungerregierung, an der in der Weimarer Republik und in Berlin zum Zeitpunkt des Blutmai 1929 die SPD beteiligt war. In dieser nur 170 Meter langen Straße lebten Tausende in Wilhelminischen Mietskasernen – die Ärmsten der Berliner Arbeiter*innen – unter Bedingungen, die aus heutiger Sicht den Tod als Erlösung erscheinen lassen müssten. Doch sie ertrugen ihr Schicksal nicht stumm, sondern kämpften für ein besseres Leben im Hier und Jetzt. Als der eiserne Hammer der Reaktion am 1. Mai 1929 und mit zunehmender Härte in den Folgetagen auf ihre Köpfe niedersauste, waren sie alle vereint als revolutionärster Teil der Arbeiter*innenschaft. Die meisten waren in der KPD organisiert, doch sie kämpften gemeinsam, Schulter an Schulter: Kommunist*innen, Sozialdemokrat*innen und Parteilose. Die Folgen der Kämpfe waren nicht nur Verletzte und Tote, sondern auch ein abendliches Ausgeh- und Lichtverbot, das der Polizeipräsident für die Arbeiter*innenviertel im Wedding und Neukölln verhängte, in denen die Kampfzonen lagen. Der „Rote Frontkämpferbund“, die Selbstverteidigungsstruktur der KPD, wurde im Nachhinein verboten und den Kommunist*innen die Verantwortung für das Vorgehen der Polizei in die Schuhe geschoben. Die NSDAP und deren Organisationen, die täglich Terror verbreiteten, wurden allerdings von der Politik nicht angerührt.

Die Arbeiterparteien waren im Viertel so stark, dass die Nazis nach eigenen Angaben im Wedding zum Jahreswechsel 28/29 gerade einmal einhundert Mitglieder hatten, während sie in anderen Teilen Deutschlands schon zur Massenpartei des aufgebrachten Kleinbürgertums und der bürgerlichen Konterrevolution wurden. Anfang 1929 traute sich zum ersten Mal ein SA-Fahrzeug in die „Rote Gasse“ und wurde mit einem Regen aus Blumen empfangen – die noch in den Töpfen steckten – und musste die Flucht ergreifen. Am 1. November 1932 trat die gesamte Kösliner Straße dem legendären Berliner Mietstreik bei und verweigerte geschlossen die Zahlung der überhöhten Preise.

Dafür mussten die Kämpfer*innen der Straße bezahlen. Wenn das Herz des roten Wedding die „Rote Gasse“ war, so war dessen große Kammer die „Rote Nachtigall.“ Das Arbeiterlokal war Dreh- und Angelpunkt aller Arbeiterorganisationen und das Lokal der kommunistischen Straßenzelle. Ihm kommt im Roman eine prominente Rolle zu. Als die Nazis 1933 die Regierungsgeschäfte für das deutsche Kapital übernahmen, war eine ihrer Maßnahmen schon im April, aus der „Roten Nachtigall“ ein Sturmlokal für einen SA-Trupp zu machen. Es sollte der Todesstoß ins Herz der verhassten Kösliner Straße sein. Doch sie konnten vielleicht Einzelne verschleppen, foltern und töten, wie es die Polizei im Mai 1929 schon tat, doch den Willen zur Revolution brachen sie in dieser Gegend erst Jahre später. Dazu musste das gesamte Viertel vernichtet werden.

Noch heute gibt es im Wedding die Kösliner Straße, die im Norden immer noch von der Wiesenstraße abgeschnitten wird und im Süden den Bogen in die Weddinger Straße macht. Doch nichts erinnert mehr an das Elend der damaligen Bewohner*innen oder an deren revolutionäre Gesinnung. Der Architekt Erich Frank hat unter dem Naziregime bereits Pläne für die Neubebauung entworfen. Es dauerte jedoch bis in die 50er Jahre, als unter der neuen demokratischen Regierung West-Berlins der Weddinger Baustadtrat Walter Nicklitz (SPD) die Häuser in der Straße abreißen und ein komplett neues Viertel schaffen ließ. Die Altbauten waren schon vor dem Kriege in unbewohnbarem Zustand und auch wenn die Bomben gerade die Kösliner Straße verschonten, so verbesserten die Kriegsjahre und Faschistenherrschaft dort nicht gerade die Lebensbedingungen. So könnte angenommen werden, dass die Neubebauung eine notwendige sozialpolitische Maßnahme war. Doch Architekt Frank und Stadtrat Nicklitz ließen keinen Zweifel über den wahren Grund aufkommen: Die Gegend sei in der Weimarer Republik schon ein Unruheherd gewesen und Nicklitz wurde sogar noch deutlicher, der „im Blickwinkel des aggressiven Bolschewismus‘ in Berlin“ im „verslumten und überalterten“ Viertel eine Gefahr für den „sozialen Frieden“ sah. Was Jahre des Verrats an den Interessen der Arbeiterklasse durch die Sozialdemokratie und später die Naziherrschaft nicht geschafft hatten, wurde in der „demokratischen“ BRD unter erneuter aktiver Mitwirkung der SPD-Führung vollendet. Denn die Herrschenden vergessen nicht.

Autor und Buch

Klaus Neukrantz war einer jener jungen Intellektuellen, die ursprünglich aus bürgerlichem Hause kamen und nach der Erfahrung der Kriegsjahre 1914 bis 1918 ihren Weg in die Arbeiterbewegung fanden. Nach dem Bruch mit seiner Familie arbeitete er als Angestellter im Kreuzberger Bürgeramt, wo er als Oppositioneller in den Betriebsrat gewählt wurde und 1923 der KPD beitrat. Er schrieb für verschiedene kommunistische Zeitungen (unter anderem für das KPD-Zentralorgan „Die Rote Fahne“) und nutzte aktiv das neue Medium des Rundfunks für die Verbreitung kommunistischer Ideen. 1928 trat er dem Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) bei und blieb bis zu dessen Auflösung durch die Nazis Mitglied. Neukrantz wurde unter dem Faschismus in Haft genommen und für geisteskrank erklärt. Seine Spuren verschwinden in den Nazikerkern, wie er selbst auch und sein Todesdatum ist bis heute unbekannt. Sein Buch Barrikaden am Wedding. Der Roman einer Straße aus den Berliner Maitagen 1929. erschien 1931 und sollte möglichst wahrheitsgetreu die Ereignisse der Woche um den 1. Mai wiedergeben. Das Buch wurde sofort nach Erscheinen verboten. Es sprach eine zu eindeutige Sprache und stellte die Ereignisse zu realistisch dar.

Der Berliner SPD-Polizeipräsident Zörgiebel war zu diesem Zeitpunkt schon ehrenhaft aus dem Dienst ausgeschieden. Der „Vorwärts“, das Zentralorgan der SPD, veröffentlichte 1930 einen schleimtriefenden Nachruf auf den Berliner „Bluthund“, der einem Gustav Noske in Nichts nachstand. Bis zu seiner Entlassung 1933 war er Dortmunder Polizeichef, wo er seiner Rolle als „Arbeitermörder“, wie ihn die kommunistische Bewegung zurecht nannte, weiter spielte. 1945 wurde er dann SPD-Vorsitzender der Stadt Mainz und war von 1947-49 Polizeichef in Rheinland-Pfalz, wo er seinen Beitrag zum Wiederaufbau der westdeutschen Polizei leistete. Früher erinnerte man sich seiner von offizieller Seite aus vor allem dafür, dass er Ampeln in Berlin bauen ließ. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes. Genauso wie Polizeioberst Magnus Heimannsberg, der nach dem Zweiten Weltkrieg von 1945 bis 1948 Chef der Polizei in Großhessen und dann bis zur seiner Pensionierung Polizeipräsident von Wiesbaden war. 1929 befehligte er gemeinsam mit Zörgiebel die Schutzpolizei (Schupo) und hatte das Oberkommando über deren Einsatz im Blutmai. Im Buch bezeichnet er die Bewohner*innen des Kösliner Viertels als „rotes Judenpack“.

Der Vizepräsident der Berliner Polizei und Stellvertreter Zörgiebels, Bernhard Weiß, ist heute noch für seine überaus republikanisch-demokratische Gesinnung als Mitglied der liberalen DDP (Deutschen Demokratischen Partei) bekannt. Dieser kämpferische Demokrat ließ sich nach den ersten Gewaltakten durch seine Polizei im Mai 29 beurlauben. Offiziell wird sein Sinn und Einsatz für die Rechtsstaatlichkeit neben Albert Grzesinski gelobt. Grzesinski (SPD) setzte sich 1919 für die militärische Niederschlagung des Arbeiter*innenaufstandes in Berlin ein, Verbot im März 1929 als Preußischer Innenminister die Maidemonstrationen und wurde Nachfolger Zörgiebels als Polizeipräsident in Berlin. Alle diese Herren werden im Buch „gewürdigt.“

Der Kampf geht weiter

Warum werden gerade diese Personen so ausführlich hier vorgestellt, während es im Buch vor allem um den Widerstand in der Kösliner Straße geht? Erst einmal geht es darum, dass wir wissen, mit wem wir es zu tun haben. Und darum, zu zeigen, dass die Bundesrepublik Deutschland nichts anderes als ein bürgerlicher Klassenstaat ist und es eine historische Kontinuität zwischen ihr und den vorangegangenen deutschen Staaten gibt. Während die „Rote Gasse“ über den Köpfen der Anwohner*innen in den 50er Jahren dem Erdboden gleichgemacht wurde, verbrachten diese Funktionäre ihren Ruhestand mit Auszeichnung und hohen Pensionen. Und es zeigt auch, dass die Geschichtsschreibung nicht neutral ist, sondern immer von den Siegern geschrieben wird. Wir müssen unsere eigene Geschichte schreiben und dürfen den bezahlten Chronist*innen keinen Glauben schenken. Das Buch, dass Ihr in Euren Händen haltet, ist ein Teil der Geschichte der Arbeiterklasse, ein Teil unserer Geschichte. Es sind die Nachkommen der Zörgiebels und Seinesgleichen, die heute entscheiden und hinter sicheren Linien den Befehl geben, wenn im Hambacher Forst oder in Hamburgs Straßen der Knüppel auf unsere Köpfe niedersaust. Sie sind gut bezahlte Handlanger, um die Interessen der Kapitalistenklasse zu schützen und deren Eigentum. Wenn heute neue Polizeigesetze beschlossen werden, ist das nichts weiter als eine Vorbereitung auf den kommenden Widerstand gegen die Politik der Reichen.

Und es ist für die Wut. Wenn sich beim Lesen dieses Buches die Faust vor Zorn ballt und die Augen sich mit Tränen der Wut füllen, dann ist das richtig. Wir dürfen nie vergessen, dass wir immer noch den selben Kampf führen. Auch wenn im heutigen Deutschland die Lebensumstände lange nicht so erniedrigend wie die im Wedding von 1929 sind, sie sind es für die Mehrheit der Menschen auf dieser Erde immer noch. Die 33 Arbeiter*innen, die während dieser Tage gestorben sind, wurden ermordet. Sie sind Tote einer ungleichen Schlacht. In diesen Tagen und Nächten gab es keine „Auseinandersetzung“, wie uns erzählt wird. Der Unterdrückungsapparat des Klassenstaates hat den Bürgerkrieg gegen die Arbeiterklasse geprobt, vier Jahre, bevor dieser unter den Faschisten zum Dauerzustand wurde.

Im Buch selbst werden die Ursachen für das harte Vorgehen der Polizei benannt und die meisten Sachverhalte sprechen für sich oder werden durch die zahlreichen Dialoge erklärt.

Daher soll hier nur kurz auf einige Punkte eingegangen werden, die in einem Sachtext wesentlich ausführlichere Erläuterung erfahren sollten. Im November 2018 wurde der 100. Jahrestag der Novemberrevolution begangen. Die Folgen der gescheiterten Revolution in Deutschland zwischen 1918 und 23 sorgten nicht nicht nur für die Verhältnisse in der Weimarer Republik, wie wir sie im Buch vorfinden. Sie gab der aufsteigenden stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion den Raum, sich politisch zu festigen und aus der Niederlage der Revolution international die Begründung für die Theorie des „Sozialismus in einem Land“ und der Etappentheorie zu ziehen. Dies ging mit einer weitgehenden Entdemokratisierung und Unterdrückung der kommunistischen Opposition in der Dritten Internationale und ihrer Sektionen (auch der KPD) einher. 1929 waren die kommunistischen Parteien bereits umfangreich dem Kommando der Bürokratie in Moskau unterworfen. In Barrikaden am Wedding wird an mancher Stelle das Wort „sozialfaschistisch“ erwähnt, was eine Bezeichnung für die SPD war. Ab 1928 ging die Komintern dazu über, zwischen der erstarkenden faschistischen Bewegung international und der Sozialdemokratie nicht mehr zu unterscheiden. Der Unterschied sei nur graduell und NSDAP und SPD nur der rechte und linke Stiefel der selben Sache. Die katastrophale praktische Schlussfolgerung daraus war, dass aus Sicht der KPD-Führung eine faschistische Regierung nicht schlimmer sein konnte, als eine SPD-Regierung. Die Folge war, dass die Arbeiter*innen, die in den Kellern auf ihren Waffenkisten saßen und 1933 auf den Befehl zum Widerstand warteten, sowohl von den Führungen der SPD, als auch der KPD zur Passivität verdammt wurden. Mit dem Ergebnis, dass sie sich nach der Zerschlagung der Arbeiterorganisationen in den Kerkern und Vernichtungslagern der Nazis wiederfanden. Die Einheitsfront, die in der „Roten Gasse“ entstand, überwand jedoch die Parteigrenzen bei der Verteidigung gegen die Angriffe der Polizei. 1929 war die „Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition“ (RGO) noch kein eigener Verband, sondern bekam bei Betriebsratswahlen sehr gute Ergebnisse, worauf im Buch verwiesen wird. So konnte der KPD-Referent des Bezirks Berlin noch auf der Versammlung der Straßenzelle korrekt dagegen argumentieren, dass die Kommunist*innen aus den freien Einheitsgewerkschaften austreten. Denn damit würden sie sich von Millionen von sozialdemokratischen Arbeiter*innen, die sie gewinnen mussten, isolieren. Eine Haltung, die leider in den Folgejahren über den Haufen geworfen wurde. In den Analysen der Linken Opposition von Leo Trotzki und seinen Genoss*innen finden wir heute noch eine klare Beschreibung dieser Fehler und Vorschläge für eine konkrete Politik der Arbeiter*inneneinheit im Kampf. Viele Texte davon sind im Programm des Manifest Verlags verfügbar, der ein breites Angebot marxistischer Sachbücher vorhält.

Hier, liebe*r Leser*in, hältst Du den ersten wirklichen Roman aus dem Manifest Verlag in Deinen Händen. Wir sind uns bewusst, dass die Sprache nicht dem entspricht, was wir heute als richtig ansehen. So ist an einer Stelle von einem „Leihhausjuden“ die Rede und oft wird das Wort „Weib“ verwendet.

Neukrantz hat versucht, die Menschen so authentisch darzustellen, wie es ihm möglich war. Gerade deshalb enthält er sich einer Wertung, sondern lässt sie für sich sprechen. Es ist ein Arbeiter*innenroman im besten Sinne: kein reines Propagandastück, aber schnörkellos in seiner Darstellung und sehr hart – graphisch, wie man heute sagt. Aber es waren nicht die Menschen, die hart waren, auch wenn sie nicht besonders zärtlich miteinander umgingen, sondern die Umstände. In wenigen Monaten jährt sich der „Blutmai“ ein 90. Mal. Wir hoffen, durch die Neuauflage dieses Buches einen Beitrag zum Erhalt unserer Geschichte beizutragen.

Oft steht zu Beginn eines Romans der Hinweis, dass alle Figuren und Handlungen frei erfunden sind und eine Ähnlichkeit mit real existierenden Personen nur zufällig ist. Fast könnte man wünschen, dass dem hier ebenfalls so wäre. Doch dies ist keine erfundene Geschichte. Neukrantz hat die Namen der Personen nur soweit angepasst, wie es nötig war, um sie keiner Strafverfolgung auszusetzen. Lasst uns der Gefallenen nicht mit still gesenktem Haupt und in Demut gedenken, wie es die Religionen vorschreiben. Lasst uns ihrer gedenken, indem wir aufstehen und kämpfen.