Die eine und die andere Kollontai 31. März 2022 – Gepostet in: Feminismus/LGBTQI* – Schlagworte: , , , , , ,

Anlässlich des 150. Geburtstags veröffentlichen wir hier das Vorwort zu unserer Neuausgabe von Kollontais Vorlesungen „Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung“. Die erste Auflage ist seit kurzem ausverkauft und wir möchten so schnell wie möglich nachdrucken, deshalb freuen wir uns über Vorbestellungen – je mehr, desto schneller können wir drucken!

Hier gibt es das Buch: https://manifest-buecher.de/produkt/die-situation-der-frau-in-der-gesellschaftlichen-entwicklung/

Dieser erneuten Veröffentlichung der 14 Vorlesungen von 1921 an der Swerdlow-Universität von Alexandra Kollontai ist ein umfassender politisch-biografischer Artikel von Steve Hollasky beigefügt, weshalb hier nicht ausführlich auf die Lebensdaten der Autorin eingegangen werden soll. Kollontai widmete ihre Kraft schon früh der sogenannten Frauenfrage und gründete bereits 1907 den ersten sozialistischen Arbeiterinnenclub. Jedoch gibt es, wie Hollasky es ausdrückt, die eine und die andere Kollontai. Diese Vorlesungen sind ein Ausfluss der Arbeit der einen Kollontai in den frühen 20er Jahren der Sowjetunion, als sie Exil und Verhaftungen wegen ihrer radikalen Kriegsopposition überstanden, bereits weltweit unzählige Frauenkongresse besucht, auf der II. Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen 1910 für die Einführung des Frauentags gestimmt und in den Reihen der Bolschewiki für den Erfolg der Russischen Revolution gekämpft hatte. Danach war sie ein Jahr lang die erste Ministerin der Welt (Volkskommissarin) und bis 1920 Vorsitzende des Frauensekretariats der Kommunistischen Internationale. In dem Jahr, in dem sie die Vorlesungen, die hier erneut abgedruckt werden, hielt, arbeitete sie als Vorsitzende der Frauenabteilung im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Russlands. Diese Vorlesungen hielt sie, bevor sie sich dem Kampf gegen die Bürokratisierung anschloss und programmatische Artikel für die Fraktion in den Bolschewiki, die Arbeiteropposition, schrieb und bevor sie sich als Botschafterin im Ausland aufhielt. Und bevor die einst so unerschrockene und in manchen Dingen Vielen vorauseilende Alexandra Kollontai als erste internationale Diplomatin arbeitete und nach Norwegen ging und bevor sie die andere Kollontai wurde, die sich Stalins Regime beugte und ohne ein öffentliches Wort die Zerstörung vieler Errungenschaften der Revolution und ihrer eigenen Arbeit und die Ermordung ihrer Genoss*innen hinnahm und begann, ihre Erinnerungen anzupassen.

Der Zeit voraus

Schon Clara Zetkin sagte in Bezug auf das Buch „Die Frau und der Sozialismus“ von August Bebel – auf das sich auch Kollontai zu Beginn der ersten Vorlesungen bezieht – man müsse ein Buch immer in die Zeit einordnen, in der es geschrieben wurde. Wahrscheinlich haben Kollontai und Bebel vieles gemeinsam, wenn auch ihre Leben sehr unterschiedlich verliefen. Beide ernteten wohl bei der Präsentation ihrer Ideen von den eigenen Parteigenossen oft Kopfschütteln: Bebel 1879 als er erklärte, dass Frauen dem Manne ebenbürtig sind, die Hausarbeit gesellschaftlich organisiert werden und Frauen jegliche Arbeit übernehmen könnten und Kollontai als sie vorschlug, dass der junge Arbeiterstaat Kommunen gründen solle, wo Kinder gemeinsam aufgezogen würden und freie Liebe vorherrsche. Trotz der Bedenken und des Unverständnisses, wurden sogar einige Kommunen in der Sowjetunion gegründet, da Lenin und Trotzki bei allen Fragen, die sie noch hatten, sich dennoch dafür einsetzten, das neue Ideen ausprobiert werden konnten. Als Ministerin für soziale Wohlfahrt und später als Vorsitzende der Frauenabteilung können wir dem Bestreben Kollontais noch viele weitere Maßnahmen anrechnen, die das Leben insbesondere von Frauen in der Sowjetunion verbessern sollten. Schon viele Jahre zuvor kämpfte sie weltweit in der Sozialdemokratie für die Anerkennung der Frauenfrage und erklärte, dass diese letztendlich nur in der sozialistischen Gesellschaft lösbar wäre.

Revolutionierung des Alltags

An der beginnenden Lösung für die Frauenfrage konnte Kollontai nach dem Erfolg der Russischen Revolution 1917 nun selbst mitwirken: die Einführung der kostenlosen medizinischen und freien Abtreibung, Kinderbetreuung und Beratungsstellen, die Legalisierung von Ehescheidungen, ein vereinfachtes Ehegesetz, ein staatlicher Mutterschutz (16 Wochen bei voller Lohnfortzahlung), Arbeitsschutzbestimmungen für Frauen wie zum Beispiel das Verbot der Nachtarbeit, die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau sowie gleicher Lohn für gleiche Arbeit, die Gleichstellung unehelicher Kinder und die Entwicklung neuer Wohnmodelle mit Wäschereien und Kantinen. Die sofortige kompromisslose Umsetzung der wichtigsten Maßnahmen, um die Unabhängigkeit von Frauen zu gewährleisten, ist zum einen dem Einsatz Kollontais zu verdanken, aber auch der Politik der Bolschewiki zu dieser Zeit. Diese verschoben trotz des herrschenden Bürgerkriegs die Lösung der Frauenfrage nicht in eine entfernte Zukunft . Reproduktionsarbeit sollte statt in der alten Familie ausgeführt, die „in ihrer erdrückenden Mehrheit Brutstätten einer mittelalterlichen Daseinsweise, weiblicher Knechtschaft und Hysterie, täglicher Demütigung der Kinder, weiblichen und kindlichen Aberglaubens“ seien, sollte die Reproduktionsarbeit vergesellschaftet werden. Das hatte auch international eine große Wirkung auf Aktivist*innen in der Arbeiter*innenbewegung. Viele schöpften große Hoffnungen und nahmen weitergehende Forderungen wie das Recht auf Abtreibung und Verhütungsmittel oder das Frauenwahlrecht – dort wo es noch nicht umgesetzt war – auf. Es eröffnete eine breite Diskussion zu vielfältigen Themen wie Hausarbeit, weibliche Lohnarbeit im Verhältnis zum Mutterschutz u. v. m. in den kommunistischen Parteien. In diesen war die Gleichheit der Geschlechter zwar programmatisch verankert, aber Frauen waren in den Führungen nur sehr selten vertreten. Ab August 1920 gab es auf internationaler Ebene ein Frauensekretariat und Frauenabteilungen der Zentralkomitees in den anderen Kommunistischen Parteien der Welt wie seit 1917 in der KPR. Auch wenn Frauen in den Sekretariaten bereits zahlreich Verwaltungs- und Übersetzungsarbeiten und Kurierdienste übernahmen, eröffnete erst dies für viele den Zugang zu den sonst männlich dominierten Parteiführungen.

Die Vorlesungen: Anfänge der Frauenunterdrückung

In dieser hoffnungsvollen Zeit hält Kollontai an einer Universität 14 Vorlesungen vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen. Denn rechtliche und organisatorische Verbesserungen waren zwar eingeführt, doch war der Kampf um die Köpfe noch lange nicht gewonnen. Sie hatte sich und der Frauenabteilung des Zentralkomitees, dem sie vorstand, zur Aufgabe gemacht, die Erziehung zu kommunistischem Bewusstsein voranzubringen. Kollontai begann in den ersten Vorlesungen mit der Entstehung von Frauenunterdrückung und bezog sich hier vor allem auf Engels „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ und „Die Frau und der Sozialismus“ von Bebel.

Christine Thomas schreibt in ihrem Vorwort zur neuen Veröffentlichung von Engels „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ im Manifest-Verlag:

„Der Ausgangspunkt für das Verständnis der historischen Entwicklung der Gesellschaft, argumentierte Engels, sei der Produktions- und Reproduktionsprozess. (…) Im Licht von mehr als 100 Jahren archäologischer und anthropologischer Forschungen können wir heute sagen, dass die generelle Stoßrichtung der Engelsschen Argumentation ihre Gültigkeit behalten hat. Allerdings muss „Der Ursprung“ als Produkt seiner Zeit verstanden werden: Revolutionär und voller Sprengstoff in seinem Bestreben, die herrschende Ideologie, die die Institutionen der kapitalistischen Gesellschaft für universell und naturgegeben erklärte, in Frage zu stellen. Gleichzeitig jedoch eine Arbeit, die dadurch behindert wird, dass sie sich auf die dünn gesäten, wissenschaftlichen Erkenntnisse stützt, die in den 1880er Jahren verfügbar waren. (…) Im Ergebnis beinhaltet „Der Ursprung“ zwangsläufig sachliche Fehler in Bezug auf Details früherer Gesellschaften und ihrer Entwicklung. Engels selbst erkannte an, dass sein Buch der Überarbeitung bedürfe, sobald neuere Erkenntnisse vorlägen. (…) Auch ist es notwendig, sich bei der Auswertung von Quellen darüber bewusst zu sein, dass die ursprünglichen Berichterstatter beziehungsweise Forscher möglicherweise durch Vorurteile oder unbegründete Vermutungen beeinflusst wurden. (…) Auch unter Berücksichtigung der genannten Vorbehalte ist es möglich, einige allgemeine Feststellungen zu den organisatorischen Prinzipien der Jäger- und Sammler-Gesellschaften zu treffen. (…) Die Herstellung und die Verteilung der Güter erfolgte kollektiv und kooperativ, die Produktionsmittel waren sehr einfach. Auch wenn es einige persönliche Besitztümer gab, waren die Produktionsmittel Eigentum der gesamten Gruppe. Die Akkumulation von Besitzständen war auf Grund der nomadischen Lebensweise kaum möglich. Obwohl zwischen verschiedenen Gruppen Geschenke ausgetauscht wurden, wurde überwiegend für den direkten Verbrauch produziert. Alle Erwachsenen, die dazu körperlich in der Lage waren, waren gewöhnlich direkt an der Produktion und der Verteilung der Nahrungsmittel beteiligt. (…) Die Erträge beider Geschlechter wurden kollektiv durch die Gruppe verteilt. (…) Die Versorgung der Kinder war eine soziale Aufgabe, die zum Wohl der gesamten Gruppe erledigt wurde. Es gab keine künstliche Trennung zwischen der privaten Rolle der Frau in einem individuellen Haushalt und ihrer öffentlichen Rolle in Gesellschaft, wie es im Kapitalismus und anderen Klassengesellschaften der Fall ist. (…) Einige der Beweise, die Engels für die Art, wie sich Gesellschaften verändert haben, anführt, werden heute durch wissenschaftliche Befunde, die seit Engels’ Buch geschrieben wurde, erhoben wurden, in Frage gestellt. (…) Dennoch gibt es eine überwältigende Zustimmung für die Auffassung, dass vor 8 – 10.000 Jahren eine revolutionäre Veränderung in der Produktionsweise stattfand. Diese Entwicklung wird im Allgemeinen als die „Neolithische Revolution“ bezeichnet, ein Begriff, der durch den Archäologen V. Gorden Childe geprägt wurde. Sie hatte das Potenzial, eine Entwicklung hin zur Herausbildung sozialer Schichten, ungleicher Machtverteilung und Reichtums-, Geschlechts- und Klassenunterschieden zu entfesseln. Diese radikale Veränderung wurzelte in der neu erworbenen Fähigkeit der Gemeinschaften, Pflanzen und Tiere zu domestizieren. Engels glaubte irrtümlich, dass die Entwicklung von Weidewirtschaft beziehungsweise Viehzucht dem Anbau und der Ernte von Feldfrüchten vorausging. Tatsächlich belegen historische Aufzeichnungen, dass beide Wirtschaftsweisen in (für frühgeschichtliche Verhältnisse) engem zeitlichen Zusammenhang auftraten, vermutlich ursprünglich im sogenannten „Fruchtbaren Halbmond “. (…) Hierbei handelte es sich nicht um eine gradlinige Entwicklung. Einige Gesellschaften begannen erst mit der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelherstellung, nachdem sie mit Kolonialmächten in Berührung gekommen waren, andere widersetzten sich auch diesem Einfluss und behielten ihre Lebensweise als Jäger und Sammler bis in jüngste Zeit bei. (…) Je mehr sich Ungleichheit und Klassendifferenzierung herausbildeten, desto größer wurde die Notwendigkeit, spezielle Institutionen und Gewaltmittel zu schaffen, um die zunehmend komplexen Gesellschaften zu verwalten, die Produzenten zu zwingen, die Produktion zu erhöhen, und Abgaben beziehungsweise Steuern und Arbeitskraft aus ihnen herauszupressen. Der Niedergang der Stellung der Frau in der Gesellschaft im Vergleich zu der des Mannes war untrennbar mit den wirtschaftlichen und sozialen Prozessen verbunden, die auch zur Entstehung sozialer Schichten, Klassenungleichheit und staatlicher Strukturen führten. (…) Mit der Verfestigung der Klassenherrschaft wurden diese ungleichen Geschlechterverhältnisse nach und nach immer mehr institutionalisiert und in Gesetze gegossen, verstärkt und verewigt durch staatliche Ideologie und Religion.“

Kollontai vollzog diese Entwicklung in den ersten fünf Vorlesungen nach den Annahmen von Engels nach und legt dabei einen besonderen Fokus auf die Stellung der Frau im Produktionsprozess. Dabei vollzieht sie eine Abwertung von Tätigkeiten wie Nahrungszubereitung und Beaufsichtigung der Kinder, die überwiegend die Frauen in den Nomadenvölkern übernommen haben sollen. Dafür gibt es bis heute keine Belege. Inzwischen sind sogar dem widersprechende Studien erschienen. Zum Beispiel haben bei den Skythen Frauen zu einem großen Anteil an Kämpfen teilgenommen, ohne dass sie sich, wie in den Märchen über die sogenannten Amazonen, eine Brust entfernen müssen, um reiten und Bogen schießen zu können. Trotz der Mängel in den Details ist die Lektüre der Werke von Engels und Bebel unbedingt zu empfehlen.

Die Vorlesungen: Die Manifestation von Frauenunterdrückung und Frauenbewegung

In den Kapiteln sechs bis neun zeichnete Kollontai die Entwicklung der Lage der Frau mit dem Fokus auf Frauenarbeit von der Manufaktur, über kapitalistische Großproduktion bis zur Kriegsproduktion nach. Daraus wird deutlich, dass die Wehrhaftigkeit von Frauen und das sich damit entwickelnde Bewusstsein und die Forderungen nach mehr Gleichstellung eng mit ihrer Stellung in der Produktion verknüpft wurde. „Es existiert keine spezielle selbständige „Frauenfrage“. Jene Kraft in der bürgerlichen Gesellschaft, die die Frau unterdrückt, ist ein Teil des großen gesellschaftlichen Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit. Der Widerspruch zwischen der Beteiligung der Frau in der Produktion einerseits und ihrer allgemeinen Rechtlosigkeit andererseits führte zur Entstehung einer bis dorthin völlig unbekannten Erscheinung: dem Aufkommen einer Frauenbewegung.“ Eine detaillierte Beschreibung der Entwicklung der bürgerlichen Frauenbewegung und ihre Abgrenzung von der Frauenbewegung der proletarischen Frauen folgen.

„Weil sich die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen so angestrengt darum bemühten, zu beweisen, dass die Frau dem Manne auf keinem Gebiet nachsteht, ignorierten sie völlig die besonderen biologischen Eigenschaften der Frau, die von der Gesellschaft eine besondere Rücksichtnahme verlangen. In der Periode des Ur-Kommunismus respektierte der Stamm die Frauen, weil sie einerseits Hauptproduzenten der Stammeswirtschaft waren und andererseits, weil die Frauen durch die Geburt von Kindern den Stamm vergrößerten. In jenen historischen Perioden aber, in denen die Männer sämtliche Aufgaben in der Produktion ausführten, gibt es für die Gesellschaft keinen zwingenden Grund mehr, die Frau mit dem Manne gleichzustellen, obwohl sie nach wie vor Kinder zur Welt bringt. Nur dann, wenn Frau und Mann gesellschaftlich nützliche Arbeit ausüben, ist die Gesellschaft bereit, die zusätzliche soziale Funktion der Frau als Mutter und Erzieherin der Kinder durch besondere Rücksichtnahme und Fürsorge zu beantworten. In ihrem glühenden und kämpferischen Engagement für die leeren Prinzipien der Gleichberechtigung wollten dies die bürgerlichen Feministinnen nicht einsehen. Sie machten ihren größten Fehler als sie glaubten, dass eine Anerkennung der Rechte der Frau identisch sei mit der totalen Gleichstellung von Mann und Frau. Deshalb kleideten sich die sehr fanatischen Feministinnen „aus Prinzip wie die Männer, schnitten sich das Haar kurz, um ihnen zu gleichen und nicht aus Gründen der Bequemlichkeit, und gingen in großen Männerschritten einher. Als diese Feministinnen erfuhren, dass Frauen zu Arbeiten im Hafen gezwungen wurden und schwere Lasten herumschleppten, da waren diese naiven Frauenrechtlerinnen zutiefst gerührt und schrieben tatsächlich in ihren Zeitschriften und Zeitungen: „Ein weiterer Sieg für die Gleichberechtigung der Frau. Weibliche Hafenarbeiter tragen Seite an Seite mit ihren männlichen Kollegen bis zu 200 kg auf ihren Schultern.“ Sie sahen auch nie ein, dass sie im Gegenteil hätten Artikel schreiben müssen, in denen die Profitgier des Kapitalismus, der durch schwere und unpassende Arbeit den weiblichen Organismus zerstörte und dadurch dem Interesse des gesamten Volkes schadete, entlarvt worden wäre. Ebenso wenig begriffen die Feministinnen, dass die Frau auf Grund bestimmter körperlicher Eigenschaften sich immer in einer Sonderstellung befinden wird und dass die Hochachtung der Gesellschaft gegenüber diesen speziellen Werten der Frau diese nicht im Geringsten zu beeinträchtigen braucht. Die Frau muss ja nicht unbedingt die gleiche Arbeit wie der Mann ausführen. Um ihre Gleichberechtigung mit dem Mann zu garantieren, reicht es vollkommen, wenn sie eine für das Kollektiv gleichwertige Arbeit leistet.“

Auch wenn diese Aussage Kollontais etwas von der Annahme der aufgrund ihrer biologischen Funktionen geschwächten Frau geprägt ist und es sicherlich bei der Verrichtung schwerer Arbeiten mehr darauf ankommt, wie stark die Muskulatur oder die Statur entwickelt ist und Frauen nicht mehr permanent durch Schwangerschaften körperlich beeinträchtigt sind, ist es richtig, dass sich die Anerkennung und die ökonomische Stellung in einem sozialistischen Staat nicht nach den körperlichen und sonstigen Fähigkeiten eines Menschen richtet und Schwangerschaft und Stillzeit mehr Schutz erhält, als es heute selbst in den hochentwickeltesten kapitalistischen Staaten der Fall ist. Es ist das kapitalistische Ausbeutungsverhältnis, wo Arbeitsbedingungen der Profitgier untergeordnet sind und wo Körper und Psyche von Männern und Frauen zerstört werden. Ob nun unter Tage oder am Schreibtisch in gebückter Haltung oder in der Nachtschicht in der Autoindustrie oder im Krankenhaus – überall wird an den Daumenschrauben gedreht und Arbeit intensiviert und Errungenschaften der Arbeiterbewegung wie Pausen und Zuschläge u. a. immer wieder angegriffen. Doch schon zu Kollontais Zeiten galt, dass die Arbeit ohne Muskelkraft, wie zum Beispiel die eines Arztes, höher bewertet wurde als die der 200 kg tragenden Hafenarbeiterin. Muskelkraft ist auch im Kapitalismus nicht die entscheidende Größe in Bezug auf die Höhe der Entlohnung und des leistbaren Lebensstils. Dazu kommt, dass wir von jahrhundertelanger Umerziehung von Frauen durch die herrschende Ideologie ausgehen müssen, wonach ihre Körper möglichst wenig raumeinnehmend gestaltet sein sollen und weibliche Körperkraft als Bedrohung gilt. Frauen bekommen schon als Kleinkind weniger Gelegenheit, körperliche Kraft auszubilden, da ihnen klar gemacht wird, dass ihre Anerkennung auch davon abhängt, ob sie Verfügbarkeit und Beeinflussbarkeit darstellen. Aktuell fühlt sich die Hälfte aller Mädchen zwischen 11 und 17 Jahren in Deutschland zu dick und ein Viertel hat bereits Diäten hinter sich, welche besonders in diesem Alter zu Erkrankungen wie Herzrhythmusstörungen führen können.

Die Vorlesungen: Anfänge der Frauenbefreiung in der Sowjetunion

Die letzten fünf Vorlesungen sind der damaligen Situation in der Sowjetunion und deren ersten Schritten in Richtung Befreiung der Frau und wie diese fortzuführen seien gewidmet. Großes Augenmerk legte Kollontai dabei auf die eingeführten Maßnahmen zur Verwirklichung der Selbstbestimmung wie das Scheidungs- und Abtreibungsrecht, aber auch auf viele Fragen der Umstellung des Alltagslebens, welche nur in einer Gesellschaft gelöst werden können, die frei von Profitinteressen und nach den Bedürfnissen der Mehrheit der Menschen organisiert wird. Einige Passagen geben ein Bild vom zunehmenden Mangel in der sowjetischen Wirtschaft, der viele der Maßnahmen sabotierten, wo zum Beispiel in einigen Regionen keine ausreichende Kinderbetreuung organisiert werden konnte oder wo es die Frauen sind, die zusätzliche Mahlzeiten kochen mussten, da die Kantinen keine ausreichende Versorgung gewährleisteten. Vor allem der hohe Bedarf an Arbeitskräften, um dem Mangel zu begegnen, spielte hier eine große Rolle. Vielleicht ist es Kollontais Ungeduld geschuldet und es gibt sicherlich textliche Schwächen aufgrund der Mehrfachübersetzungen aus dem Schwedischen und Norwegischen: Die sowjetischen Frauen sollen schnell die Vorzüge der neuen Lebensweise erkennen und annehmen. Die klassischen Ehefrauen, die noch an ihren alten Aufgaben hängen, bezeichnete Kollontai in dem vorliegenden Text als „legale Mätressen“. Mal abgesehen davon, dass historisch betrachtet Mätressen als Beraterinnen von herrschenden Männern mehr Freiheiten als deren Ehefrauen hatten und oft sogar großen Ruhm erlangten, verwendet Kollontai hier einen Begriff – die Mätresse –, der häufig als Abwertung verstanden wird. Es ist nicht anzunehmen, dass Kollontai Frauen mit einem sich langsamer entwickelnden Bewusstsein die Solidarität verwehrte. Aber eine harte Sprache und moralische Vergleiche, die darauf abzielen, die Frauen abzuwerten oder zu verurteilen sind kein Weg, um Frauen, die sich aus welchen Gründen auch immer mit Veränderungen schwer tun, für den Aufbau von Kommunen und eines gesellschaftlich organisierten Versorgungsnetzes zu gewinnen und von der Idee einer sozialistischen Gesellschaft zu überzeugen.

Genossin, Arbeiterin und Mutter

Eine wichtige Errungenschaft der frühen Sowjetunion, für die Kollontai sich stark eingesetzt hatte, war der umfassende Mutterschutz. DDieser sollte gewährleisten , dass arbeitende Frauen dennoch Kinder bekommen konnten und bestärkte die Auffassung der Kindererziehung als gesellschaftliche Aufgabe, so dass Mütter ohne schlechtes Gewissen ihrer Ausbildung und ihrer Arbeit nachgehen konnten. Der Beginn von Veränderungen muss auf die Frauen, die solche Einrichtungen nutzen konnten, wie ein Befreiungsschlag gewirkt haben. So ganz mochte Kollontai die Frauenschaft aber nicht aus ihrer Mutterrolle entlassen und formulierte: „Die Mutterschaft ist bei uns keine private und familienrechtliche Angelegenheit mehr, sondern eine wichtige soziale und zusätzliche Funktion der Frau.“ Es ist davon auszugehen, dass hier die Idee der gesellschaftlichen Verantwortung für das Wohlergehen von Schwangeren, Gebärenden und Stillenden und den Kindern gemeint ist. Auch wenn es so klingen mag, Kollontai spricht nicht der einzelnen Frau das Recht auf Selbstbestimmung ab, selbst wenn die Geburt von Kindern für das Fortbestehen der Gesellschaft unabdingbar ist. Kollontai war wie eingangs beschrieben diejenige, die als Volkskommissarin 1917 das freie Abtreibungsrecht als erstes einführte.

Die Rücknahme von Frauenrechten

In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre galt beinahe jede progressive Forderung in Bezug auf sexuelle Emanzipation als der Linken Opposition zugehörig und wurde als ultralinke Abweichung deklassiert. Bereits im neuen Familiengesetzbuch von 1926 wird wieder ein konservatives Familienbild verankert, was die Frau in Abhängigkeit von der Ehe als Versorgungsanstalt setzt. Die Stellung der Frauenabteilungen wurde eingeschränkt und die Monatszeitung Kommunistische Fraueninternationale 1925 eingestellt. Nach 1926 gab es keinen internationalen Frauenkongress mehr. Später wurden die selbstständig tätigen Frauenabteilungen durch Kommissionen ausgetauscht und das eigenständige Internationale Frauensekretariat 1926 der Komintern untergeordnet, womit der Arbeit der Aktivist*innen in diesen Abteilungen und Sekretariaten nur noch eine beratende Funktion zugewiesen und jegliche eigenständige Diskussion unter die Kontrolle der bürokratischen herrschenden Clique um Stalin gebracht wurde. Durch den grassierenden Mangel an und in den Kinderbetreuungsstätten, den Kantinen und Wäschereien waren viele Frauen gezwungen, ihre Arbeiten im Haus wieder zu intensivieren oder kamen gar nicht dazu, Einrichtungen dieser Art überhaupt zu nutzen. Die Schaffung von Privilegien für führende Teile der Verwaltung und des Apparats führte zu enormen sozialen Unterschieden, wo es privilegierte Frauen leichter hatten, sich mit Dienstboten und der Umgehung der Abtreibungsverbote und mit dem Bezahlen einer Scheidung etwas Freiheit zu verschaffen. Es kam auch wieder vermehrt zu den eigentlich verbotenen sogenannten Geldheiraten .

Die Frau wurde in der Sowjetunion zunehmend propagandistisch als aufopfernd für das Familienwohl oder für das nationale Wohl und als Hausfrau und Mutter dargestellt. Unter Stalin in den 30er Jahren war es die Pflicht der Frau, Kinder zu bekommen, sie zu erziehen und dem engagierten Ehemann eine gute Ehe- und Hausfrau zu sein. Um eine weiter sinkende Geburtenrate zu verhindern, wurden unter Stalin Medaillen und Auszeichnungen für Mütter mit vielen Kindern vergeben. Eine Mutter mit zehn Kindern galt als Heldenmutter, eine Mutter mit sieben bis neun Kindern bekam eine Ehrenmedaille und eine Mutter mit fünf bis sechs Kindern eine Mutterschaftsmedaille aus Bronze und Silber. Kinderlose Frauen wurden durch höhere Steuern bestraft. 1936 wurde Scheidung wieder erschwert und Abtreibung wieder unter Strafe gestellt während gleichzeitig in der neuen Verfassung vom Dezember die völlige Gleichstellung von Mann und Frau erklärt wurde. Nachdem die Bolschewiki nach 1917 für ein „vollendetes System öffentlicher Pflege und Dienstleistungen eintreten“, „das die gesamte Generation in Solidarität und gegenseitigem Beistand eint“ und wo die Jugend von elterlicher Autorität befreit würde, kam nun die Familie und deren Schutz an erster Stelle. Die Änderungen an den Gesetzen bedienten sich an den Formulierungen der bürgerlichen Gesetze im kapitalistischen Ausland. „Das gebieterische Motiv für den heutigen Familienkult ist zweifelsohne das Bedürfnis der Bürokratie nach einer stabilen Hierarchie der gesellschaftlichen Beziehungen und nach der Disziplinierung der Jugend durch vierzig Millionen Stützpunkte der Autorität und der Macht.“

Die Frau in der Sowjetunion sollte sich aber nicht nur an der Mutterschaft erfreuen, sondern auch noch an der Arbeit, was durch den zunehmenden Mangel an Kinderhorten und Verhütungsmitteln schwieriger wurde und für die meisten Frauen eine enorme Doppelbelastung war. Diese Wende wirkte sich bis in alle kommunistischen Parteien der Welt aus. Überall erfolgte eine Anpassung der vermittelten Werte in Richtung Familie und der sogenannten „natürlichen“ Aufgaben der Frauen.

Die Frauenbewegung später und Ausblick

Kollontais Ideen und ihre Kritik an kleinfamiliären Lebensformen wurden 1968 von der Frauenbewegung wieder aufgenommen und auch ihre 14 Vorlesungen 1977 in Frankfurt am Main erneut veröffentlicht und breit diskutiert. Themen wie die Entstehung und Bekämpfung von Frauenunterdrückung, sexuelle Befreiung und die Vergesellschaftung von Hausarbeit waren u. a. Gegenstand von Vorlesungen an Universitäten in den 70er Jahren. Daraus entwickelten sich ganze Studienrichtungen und -zweige. Bis heute bieten die Studien und Werke, die Autor*innen und Revolutionär*innen schon vor über hundert Jahren schufen, eine hervorragende Grundlage für weitergehende und spannende Diskussionen, wo Teilnehmende nicht nur oft viel über sich selbst lernen und beginnen, frühkindliche und aktuelle Prägungen zu hinterfragen, sondern Konzepte zu prüfen und zu entwickeln, wie die herrschenden Verhältnisse ins Wanken gebracht und überwunden werden können.

Der starke Fokus Kollontais auf die Rolle der Frau in der Produktion als Faktor für ihre Anerkennung mag ein wichtiger Ansatz für den Aufbau eines jungen sozialistischen Arbeiter*innenstaates sein. Im Kapitalismus jedoch, wo bürgerliche Feminist*innen entweder dazu übergehen, bezahlte Hausarbeit zu fordern oder wie ihre Vorgängerinnen im 19. Jahrhundert die Befreiung durch die rechtliche Gleichstellung der Frauenerwerbsarbeit herbeisehnen, werden diese gut gemeinten Vorschläge zwar teilweise umgesetzt, aber durch das bestehende Herrschaftssystem wieder konterkariert. Unter dem kapitalistischen Profitzwang wird Frauen weiterhin der größere Teil der Arbeit für weniger Geld zugemutet. Die Flexibilisierung von Arbeitszeiten und prekäre Arbeit betreffen überwiegend Frauen. Frauen stellen den größten Anteil aller Beschäftigten in Teilzeit und in geringfügigen Beschäftigungen, bei variablen Arbeitszeiten, Leiharbeit und befristeten Arbeitsverträgen und bei Arbeitsverhältnissen mit weniger rechtlicher Absicherung oder Tarifverträgen. Wenn Kinder geboren werden, sind es immer noch überwiegend die Frauen, die ihre Arbeitszeit reduzieren, um mit der steigenden Belastung fertig zu werden und um andererseits nicht völlig aus dem Arbeitsleben ausgeschlossen zu werden. Teilzeitarbeit und prekäre Arbeit führen sehr oft dazu, dass Frauen aus den besseren Arbeitsverhältnissen ausgegrenzt werden.

Gleichstellung? Befreiung? Im Kapitalismus nicht möglich

Die Propaganda der Herrschenden hat sich in Bezug auf die Rolle der Frau und ihre Stellung in der Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert immer wieder verändert. Aber die Grundsätze dieses auf Profitmaximierung und der ungleichen Verteilung von Reichtum und Macht basierenden Systems stützen sich auf reaktionäre Vorstellungen von männlicher Überlegenheit. Die Folgen sind, dass Frauen weiterhin Gewalt und der Einschränkung ihrer Sexualität und Fortpflanzung unterworfen sind, in einem Alltag, der sie mit Sexismus, Diskriminierung und Geschlechterstereotypen konfrontiert. Heute – inmitten einer weiteren massiven Weltwirtschaftskrise – sehen wir einen Trend vom Rückzug in die Kleinfamilie. Alternative Projekte verschwinden, einmal wegen der neoliberalen Politik und der Ideologie vom starken Staat, der alles im Interesse der Boden- und Immobilienspekulant*innen aus dem Weg räumt. Zum anderen zwingt die zunehmende Prekarisierung, Zukunftsangst und Unsicherheit viele Menschen, in scheinbar sicheren Partnerschaften Geborgenheit zu suchen und sich in verschiedenen, nicht unbedingt progressiven Ideen wie in der Religion, der Esoterik oder übersteigerter Romantik etwas vermeintliche Erleichterung und Ablenkung zu erhoffen. Das kann ohne ein ehrliches Angebot zur Diskussion und zum Kampf für Verbesserungen von der Linken zu einer weitergehenden Akzeptanz von Einschnitten bei Frauenrechten und zu einem regelrechten neuem Backlash führen. Nicht umsonst agitieren Pegida und Co. gegen den „Genderwahnsinn“ oder proklamiert die AfD trotz Gender Pay Gap und täglichen Mordversuchen an Frauen, dass Frauen keine Gleichstellung benötigen würden. Das findet zwar vorrangig Unterstützung bei einigen rückschrittlichen Männern, aber auch bei Frauen. Ddiese müssen nicht alle gleich als Antifeminist*innen bezeichnet werden , sondern sind mehrheitlich eher verunsichert oder der Lüge aufgesessen, dass inzwischen Männer benachteiligt wären. So kann sich eine auf stereotypen Denkmustern basierende Einstellung verbreitern und Anschlussfähigkeit für eine mit dem Antifeminismus zumeist verbundene Ideologie rassistischer Natur hergestellt werden. Das zeigt, wie wichtig es ist, einen Verlag zu haben, der für die Verbreitung von Schriften und Büchern eintritt, um die Welt zu ändern, wie die vorliegende Sammlung der 14 Vorlesungen. Der Manifest-Verlag und die Sozialistische Organisation Solidarität schaffen darüber hinaus ein Angebot, herrschende Verhältnisse nicht nur in Frage zu stellen, sondern sich zu organisieren und für eine Gesellschaft zu kämpfen, die sich nicht im Interesse des Profits auf Spaltung und Gewalt stützen muss, sondern die im Interesse der Mehrheit der Menschen aufgebaut wird und damit nicht nur die Befreiung der Frau möglich machen wird, sondern der gesamten Menschheit und des Planeten.

Alexandra Arnsburg, Berlin, April 2021